Ich danke herzlich für die Einladung heute eine Fastenpredigt halten zu dürfen. Womit ich nicht dienen kann, ist eine echte Glaubenskrise, die ich erlebt hätte. Es hat aber eine Situation gegeben, mit der ich mit kirchlichen Positionen nicht zurechtgekommen bin, davon werde ich erzählen.
Meine kirchlichen Erinnerungen gehen weit zurück: Ich bin in einer sehr religiösen Familie aufgewachsen – es wurde morgens, vor den Mahlzeiten und abends gebetet. Mein Onkel und Göti Walter war Priester und drei meiner Tanten Klosterschwestern. Meine Eltern nahmen mich mit in die Kirche zum Sonntagsgottesdienst – mit dem Schuleintritt 1962 gab es auch einen täglichen Schulgottesdienst um 7:20 Uhr, den ich kaum versäumt habe. Mit meinem Mitschüler Rudi Mühlmann habe ich mich in der 3. Klasse gematcht, wer den Gottesdienst weniger oft versäumt. Er hat gewonnen, er war weniger oft krank als ich.
Die kirchliche Situation in Götzis war so, dass wir drei Priester hatten – Pfarrer Feurstein, Kaplan Zehrer und Katechet Lampert. Es gab am Sonntag fünf Vormittagsgottesdienste. Nach der Erstkommunion 1964 sind wir Sänger und Ministranten geworden, eigentlich die meisten in meiner Klasse; heute unvorstellbar: Damals durften nur Buben ministrieren. Gleichzeitig waren wir bei der Jungschar.
Eines gleich vorweg: Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen, das waren schöne Erlebnisse, sie sind aber nicht wiederholbar. Die Kirche muss sich in jeder Epoche neu bewähren – das ist auch die große Herausforderung, sich der Zeit zu stellen, ohne zeitgeistig zu werden. Und da gibt es auch Hoffnung: Wenn ich im letzten Kontakt lese, dass sich in Götzis momentan 18 Mädchen und Buben auf den Ministrantendienst vorbereiten, dann ist das einfach eine tolle Sache!
Es war die Zeit des 2. Vatikanischen Konzils – ich erinnere mich noch gut an den ersten Fastensonntag 1964, als erstmals eine Volksmesse gehalten wurde, also die Messe auf Deutsch, vorher war alles in Latein, außer die Lesung, das Evangelium und die Predigt. Selbstverständlich habe ich mir als fast Achtjähriger eingebildet, ich würde alles verstehen, was da in Rom abgeht. Wahrscheinlich liegt das auch daran, dass Pfarrer Feurstein der Zeit weit voraus war und die Dinge gut erklären konnte. Pfarrer Feurstein hatte immer in der 4. Klasse der Volksschule Religion und hat uns viel vom Krieg erzählt. Wir haben wahrscheinlich nicht alles verstanden, aber es ist ihm mehr darum gegangen, menschliche Haltungen unter schwierigen Umständen zu vermitteln als die genaue Schilderung von Schlachten. Das hat uns jedenfalls sehr beeindruckt.
Zu Beginn des Studiums in Innsbruck bin ich dann einer katholischen CV-Verbindung beigetreten; das war eine wertvolle Erfahrung – wir hatten eigene Verbindungsseelsorger, die aufgeschlossene Priester waren und mit jungen Menschen, die durchaus kirchenkritisch waren, gut umgehen konnten. Dadurch, dass ich im CV auch österreichweit tätig war, bin ich mit dem Vereins- und Verbandskatholizismus in Berührung gekommen, etwas, was ich aus Vorarlberg nicht gekannt habe. Dort war man eher konservativ eingestellt. Jedenfalls hatten diese Verbände in der Kirche einen gewissen Einfluss und so habe ich mich 1981 plötzlich im Vorbereitungskomitee zum Katholikentag 1983 in Wien wiedergefunden.
Zu Beginn der 80er Jahre, als Student, aber auch als junger Lehrer und Erwachsenenbildner, kam es dann auch zu der schon angekündigten Distanz zu kirchlichen Positionen. Meinen Wehrdienst hatte ich als Einjährig-Freiwilliger absolviert und so bin ich Offizier geworden und habe viele Übungen gemacht, das war damals als Student mein Ferienjob. 1975 ist in Österreich das Zivildienstgesetz in Kraft getreten. Politisch war das umstritten, deshalb mussten die Zivildienstwilligen vor eine Kommission treten, um ihre Gründe darzulegen, warum sie keinen Wehrdienst leisten wollen. Man nannte sie „Gewissenskommission“. Daraufhin haben politische Parteien, die Gewerkschaft und aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen auch die katholische Kirche in Vorarlberg Zivildienstberatungsstellen eingerichtet, die die zukünftigen Zivildiener unterstützen sollten, dass sie ihr Ziel erreichen. Auch war zu Beginn der 80er Jahre die sogenannte Friedensbewegung sehr aktiv, deren ernsthaftes Ziel es war, durch einseitige Abrüstung den Frieden zu sichern, also, der freie Westen sollte abrüsten und damit den kommunistischen Osten zum Frieden ermutigen. Auch hier waren Teile der Kirche engagiert. Als dann ein Vorarlberger Geistlicher verlangte, eigentlich müssten sich die Wehrdiener vor einer Kommission verantworten, warum sie als Christen Wehrdienst leisten können, war das natürlich eine Konfliktsituation für mich und viele katholische Soldaten. – Die Dinge haben sich beruhigt, unterschiedliche Positionen müssen auch in der Kirche möglich sein, solange man christlich miteinander umgeht.
Die Sehnsucht nach Frieden ist so alt wie die Menschheit und spielt auch im Christentum eine große Rolle. Das Gebot der Nächstenliebe wäre ein guter Ansatz dazu. Der Illusion, man könne zwischenstaatlich Frieden ohne Waffen sichern, ist auch Europa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erlegen – bis zum grausamen Erwachen am 24. Februar 2022.
Es ist klar, dass das Evangelium eine hochpolitische Sache ist und dass die Kirche in wichtigen Sachen ihre Position erklären muss. Es ist naheliegend, dass der Einsatz für die Schöpfung wichtig ist, wir sollten unseren Kindern und Enkel eine intakte Natur hinterlassen, auch den ärmeren Ländern, die stärker auf die Natur angewiesen sind – aber trotzdem geht „Lebensschutz vor Naturschutz“. Eine besonders kräftige Formulierung ist mir aus dem Jahre 1974 in Erinnerung; als unser – kürzlich verstorbener - Pfarrprovisor Richard Gohm die kürzeste Predigt hielt, die ich je gehört habe. Es war die Zeit des Volksbegehrens gegen die Abtreibung. Er bestieg die Kanzel und sagte: „Wer abtreibt, sündigt; wer gegen die Abtreibung nicht unterschreibt, sündigt auch! Amen.“
In meiner Tätigkeit als Lehrer war es mir ein Anliegen den Religionsunterricht zu unterstützen. Seit 1997 gab es in Österreich in Form eines Schulversuchs die Möglichkeit, anstatt des Religionsunterrichts Ethik zu besuchen. Es hat eine Zeitlang gedauert, bis die Kirche kapiert hat, dass das mehr eine Unterstützung des Religionsunterrichts ist als eine Konkurrenz. Dann nämlich, wenn die Alternative zum Religionsunterricht nicht zwei Freistunden, sondern zwei Ethikstunden sind, in denen womöglich noch Prüfungen abzulegen sind. Es ist auch kein Zufall, dass sich schon recht früh die beiden damals konservativ regierten deutschen Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg dazu entschlossen haben, den Ethikunterricht einzuführen. Ich selbst habe mich dann von 2003-07 berufsbegleitend zum Ethiklehrer ausbilden lassen und habe das Fach von 2003 -2021 unterrichtet. Als ein Schüler von mir das erfahren hat, hat er gemeint: „Wenn der Türtscher Ethik unterrichtet, können wir gleich Religion gehen.“ Tatsächlich habe ich gerade im Ethikunterricht, den viele Schüler besucht haben, die ohne Bekenntnis sind, ein starkes religiöses Interesse dieser Gruppe feststellen können. – Der Ethikunterricht wurde in Österreich mit dem Schuljahr 2020/21 nach langwierigen innenpolitischen Kontroversen endlich als reguläres Fach eingeführt – allerdings erst ab der 9. Schulstufe. Er wäre ab der 1. Klasse der Volksschule wichtig, denn der Rückgang der Christen und Katholiken ist auch in unserem Land unaufhaltsam. In meinem letzten Dienstjahr als Lehrer 2020/21 habe ich eine erste Klasse unterrichtet – von 25 Schülern waren nur noch acht Katholiken.
Wenn Ihr mich fragt, wie es mit der Kirche weitergeht, bin ich gedämpft optimistisch. Ob Frauen Priester werden dürfen oder der Zölibat aufgehoben werden soll, vermag ich nicht zu beurteilen, beides sind rein innerkirchliche Vorschriften.
Ein befreundeter Priester aus Würzburg, mit dem ich in Innsbruck studiert habe, hat mich auf das Zitat des Religionssoziologen Detlef Pollack hingewiesen: „Gute Seelsorge, karitatives Engagement, Jugendarbeit und Religionsunterricht mit Qualität erhöhen die Chancen, dass die Menschen neues Vertrauen in die Kirche entwickeln.“
Und er sagt weiter: „Unser Glaube an den in Jesus menschgewordenen Gott, seine Menschenfreundlichkeit, seine Frohe Botschaft und seine Sendung zum Dienst am Nächsten ist die Grundlage unseres Tuns. Diesen Glauben zu verkünden und durch unser Tun zu bezeugen, muss allen Diskussionen um Ämter, Macht, Kontrolle, Weihe von Frauen, Sexualmoral und priesterliche Lebensform vorausgehen.“
Die Bibel gibt dazu sehr aktuelle Anregungen: Mit meinen Schülern war ich einig, dass die 10 Gebote „die kürzeste Verfassung“ der Welt sind – wenn man alle Punkte befolgt, hätten wir das Himmelreich auf Erden.
Und dann die Genesis – 1,27. Was damals – vor ca. 3.300 Jahren - logisch war, ist heute von erfrischender Klarheit: Gott schuf also den Menschen als sein Abbild, als Mann und Frau schuf er sie. – Es gibt also nur zwei Geschlechter.
Auch die Lehren der Bergpredigt sind hochaktuell:
Selig, die arm sind vor Gott; / denn ihnen gehört das Himmelreich.
Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; / denn sie werden satt werden.
Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet.
Es wäre aber falsch verstanden, die Menschen, denen es schlecht geht, auf die Ewigkeit zu vertrösten – wir als Christen müssen bereits auf dieser Welt uns um Gerechtigkeit bemühen. Das ist unser Auftrag!
Die Sorge für die Armen war immer ein Kennzeichen der christlichen Kirchen – und im 19. Jahrhundert ist der Kirche mit etwas Verzögerung auch die Gründung christlicher Arbeitnehmerbewegungen gelungen, denen viel Gutes zu verdanken ist.
So lange wir uns als Kirche bemühen, das Gebot der Nächstenliebe im Alltag glaubwürdig umzusetzen, so lange mache ich mir um den Bestand der Kirche keine Sorgen. Wir alle aber wissen, wie schwierig das oft ist. Versuchen wir es trotzdem jeden Tag!